Mit diesem Interview-Beitrag möchten wir den Lesern unseres Blogs einen besonderen Gast unseres Ensembles näher vorstellen. Michael Stacheder, Regisseur und Schauspieler aus Bad Aibling, wird im kommenden Frühjahr zwei Lesungen mit uns in den mittelsächsischen Raum bringen.
Susanne Schneider: Lieber Michael, Dresden und Bad Aibling, das ist nicht nur räumlich weit voneinander entfernt und doch begegneten wir uns vor einiger Zeit, im großen, weiten Netz. „Wir lesen uns“, so sagt man noch heute, wir kannten uns nicht persönlich und doch beschlossen wir 2017, ein literarisch-musikalisches Projekt zusammen auf die Beine zu stellen. Viele Mails, ein paar Telefonate und hin- und hergeschickte Klangbeispiele waren der Start für eines unserer ungewöhnlichsten Projekte. Am Tag der beiden Lesungen begegneten wir uns dann tatsächlich zum ersten Mal persönlich. Verrückt, könnte man sagen, oder? Wie kamst du darauf, dich auf diese verrückte Sache einzulassen?
Michael Stacheder: Ich bin sehr neugierig und man kann seinen persönlichen Horizont nie genug erweitern, finde ich. Und ich mag das Abenteuer! Im Grunde kannten wir uns ja auch schon über die Gespräche und Unterhaltungen auf Twitter. Oder hattest Du das Gefühl, dass wir uns bei unserer ersten Begegnung nicht kannten? Diese Vertrautheit, die sich da im Netz aufgebaut hat, hat sich für mich im Analogen fortgesetzt. Unsere beiden Lesungen in Dresden, das waren schöne und besondere Erlebnisse, an die ich gerne zurückdenke.
Susanne Schneider: Welche Rolle spielt überhaupt die Arbeit im Netz für dich?
Michael Stacheder: Eine Arbeit, die für mich immer mehr an Bedeutung gewinnt. Oft wird das Netz gescholten, als großes Übel unserer Zeit. Aber sind es nicht wir, die das Netz gestalten und beleben? Wir sind mitverantwortlich für die unzähligen Räume und Netzwerke. Natürlich, die Anbieter der Sozialen Netzwerke haben hier eine große Verantwortung, aber auch wir, die Nutzer. Jeder Einzelne ist hier gefragt und darf es nicht abschieben auf andere. Wir haben es selbst in der Hand, wie wir uns dort begegnen und was wir dort verbreiten. Für mich ist das Netz oder die sozialen Netzwerke auch ein Spiegelbild unserer analogen Gesellschaft. Es sind real existierende Räume, nur eben im Netz. Und wenn diese Räume für Hass und Hetze missbraucht werden, müssen wir uns hier als Zivilgesellschaft ganz klar positionieren. Wir dürfen das Netz nicht den Populisten und radikalen Kräften überlassen. Da haben wir schon zu lange tatenlos zugesehen. Für mich ist das Netz auch ein besonderer Ort der Inspiration, der Begegnung mit Anderen und diese Begegnungen sind für mich und meine Arbeit sehr belebend.
Susanne Schneider: Mit den Theaterwelten begibst du dich in offene Räume, in Fantasieräume, die mit ganz reellen Themen gefüllt sind. Was verbirgt sich dahinter?
Michael Stacheder: Für mich persönlich sind das gar nicht so sehr „Phantasieräume“. Natürlich, sie beflügeln meine Fantasie und sollen auch die Fantasie der Besucher anregen, aber es sind durchaus Räume, die existieren. Man muss sich das so vorstellen: der Beruf des Regisseurs ist vor allem auch ein Beruf, wo Du sehr mit Dir, mit Deinen Inspirationen und Ideen beschäftigt bist. Vielleicht auch erst mal alleine, bevor Du Deine Einfälle mit dem Ausstatter oder den Schauspielern besprichst und teilst. Und für diesen Prozess der Entwicklung ziehe ich mich sehr gerne in meine gedanklichen Räume zurück, die mir es auch leichter machen, die einzelnen Einfälle zu sammeln und zu konkretisieren. In meinem Arbeitsjournal, das ich seit 2017 öffentlich führe, können die Besucher des Blogs diese Räume besuchen und teilhaben an der Entwicklung der einzelnen Projekte. So gibt es den Raum des Schnürbodens tatsächlich auch in meinem Arbeitszimmer. Dort ist zwischen zwei Regalen ein schwarzer Schusterzwirn gespannt, auf dem mittlerweile viele unzählige Zetteln aufgereiht vor sich hin baumeln. Kleine Papierschnipsel mit ersten Ideen und Gedanken, Einfällen, Dinge die ich nicht vergessen möchte, die aber vielleicht in meinem Notizbuch übersehen werden. Auch Postkarten, die ich geschickt bekomme oder Fotografien die mich inspirieren. Der Schnürboden – ein tatsächlich existierender Raum. Sowohl im Analogen, als auch im Digitalen.

Susanne Schneider: Stefan Zweig und die wie Satelliten um ihn kreisenden Themen sowie Erinnerungsarbeit sind zentrale Punkte deiner Arbeit. Warum hast du dir gerade diese, für viele auf den ersten Blick als schwere Kost empfundene Themen gesucht?
Michael Stacheder: Dieses Thema hat mich erreicht und nicht mehr losgelassen. Meine erste Inszenierung überhaupt als Regisseur 2004 war der Widerstandsgruppe Die Weiße Rose gewidmet und seitdem hat mich die Thematik nicht mehr losgelassen. Unbemerkt habe ich hier eine Verantwortung übernommen, die mir erst später bewusst wurde, als ich z.B. für Lesungen in die Schulen eingeladen wurde. Ich habe wie viele andere auch eine Stelle eingenommen, die bis dahin von Zeitzeugen ausgefüllt wurde. Wir leben in einer Zeit, in der wir uns immer häufiger von den Zeitzeugen des Holocaust verabschieden müssen. Aber wir dürfen uns nicht von ihren Erinnerungen verabschieden, sondern müssen diese weitertragen an die folgenden Generationen. Wir haben als Gesellschaft ein Vermächtnis der Zeitzeugen überlassen bekommen. Dieses Vermächtnis müssen wir bewahren und lebendig halten. Zugleich ist es aber auch Auftrag, dass so etwas wie der Holocaust nie wieder auf der Welt geschieht. Ich hatte noch das große Glück, Zeitzeugen zu begegnen und diese Erfahrung möchte ich gerne weitergeben und teilen.
Susanne Schneider: Für uns in Mitteldeutschland ist die Linie Wien – Prag – Dresden – Leipzig – Weimar nicht nur eine Linie auf der Landkarte. Viele Kulturwege ziehen sich seit hunderten von Jahren durch diese Städte und die Landschaften um sie herum. Dennoch ist Wien und die Kultur, ja die „Welt von Gestern“, wie Stefan Zweig sie erlebte, für viele hier mittlerweile sehr weit weg. Warum ist es besonders für uns heute hier in Mitteldeutschland Lebende lohnenswert, einen genaueren Blick in diese Welt zu werfen? Und andersherum gefragt, zieht sich für dich selbst diese Linie so oder doch eher bis zu dir in den Süden Deutschlands an den Alpenrand?
Michael Stacheder: Für mich ist die Welt von Gestern von Stefan Zweig nicht nur Wien. Natürlich, der Schauplatz ist Wien. Aber es ist vielmehr auch Metapher für eine ganze Epoche, die dem Untergang geweiht war. Es lohnt sich sehr, die Autobiografie von Stefan Zweig zu lesen und für die Gegenwart neu zu entdecken, nicht nur in Mitteldeutschland. Wir können aus dieser Welt von Gestern für das heute lernen. Deshalb auch meine Satellitenprojekte, wie gerade aktuell meine Beschäftigung mit dem Briefwechsel von Franz und Maria Marc.
Susanne Schneider: Stefan Zweig ist weit in der ganzen Welt herumgekommen, er liebte seine Heimat. Seine Heimat war Europa, er träumte von einer friedlichen Vereinigung und sollte bitter enttäuscht werden. Ja, schlimmer, er verlor seine Heimat, musste sie verlassen und fand den Mut, ein Buch über die Welt von Gestern zu schreiben, das viel mehr ist als eine Autobiografie. Es ist ein Vermächtnis einer Zeit und einer Kultur, die es nicht mehr gibt. Was sagt uns das Buch heute? Warum sagt man, ist es aktueller denn je?
Michael Stacheder: Weil wir gerade anhand der Welt von Gestern nachvollziehen und begreifen können, wie die Verführung zu einfachen Antworten auf komplizierte Fragen der Gegenwart funktioniert. Anders gesagt: man entdeckt erschreckend viele Parallelen zu unserer Gegenwart. Auch ähneln die Mechanismen und Vorgehensweise einer populistischen und nationalradikalen Politik der heutigen.

Susanne Schneider: Max Mannheimer. Lange konnte er nicht über Erlebtes sprechen, bis er doch sein spätes Tagebuch schrieb, ein wichtiges Zeitzeugendokument. Du bist Initiator der Max-Mannheimer-Kulturtage in Bad Aibling. Warum ist es so wichtig, das Vermächtnis Max Mannheimers weiterzuführen? Wie kam er zu der Erkenntnis, dass man doch über die grauenhaften Dinge, die ihm und seiner Familie angetan wurden, miteinander ins Gespräch kommen muss und es nicht verschweigen darf?
Michael Stacheder: Max Mannheimer schrieb sein Spätes Tagebuch für seine Tochter, als er glaubte, nicht mehr lange zu leben. Anfang der 1980er Jahre begann Max Mannheimer dann auch in die Schulen zu gehen, um von seinem Überleben der Konzentrationslager in Theresienstadt, Auschwitz und Dachau zu erzählen. Er kam nie als Ankläger zu diesen Lesungen und Diskussionen, viel mehr als Aufklärer. Was konnten die Schülerinnen und Schüler an dem Holocaust, an der Shoah dafür? Nichts. Es ging ihm nicht um die Schuldfrage, sondern vielmehr darum, dass so etwas nie wieder geschieht. Und dafür haben wir eine Verantwortung, auch 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und gerade wenn wir heute auf Europa und die Welt blicken. Es reicht schon lange nicht mehr aus, stillschweigend Straßennamen in Erinnerung an die Opfer oder Widerstandskämpfer zu vergeben. Deshalb habe ich auch 2018 zum ersten Mal die Max Mannheimer-Kulturtage in Bad Aibling ins Leben gerufen, die alljährlich im Januar und Februar stattfinden, im kommenden Jahr bereits zum dritten Mal. Wir versuchen dort, im Gedanken eines lebendigen und kulturverbindenden „Miteinander Erinnern“, die aktive wie zivilgesellschaftliche Verantwortung für unsere Gegenwart sichtbar und erlebbar zu machen. Die Aufforderung von Max Mannheimer, „ihr seid nicht schuld an dem, was war, aber verantwortlich dafür, dass es nicht mehr geschieht“, ist uns dabei Verpflichtung. Auch möchten die Kulturtage in Bad Aibling aufzeigen, wie wir unsere Erinnerungskultur auch ohne die Zeitzeugen weiterleben und weiterdenken können und müssen.
Susanne Schneider: Für uns in den östlichen Bundesländern gab es bis vor 30 Jahren keinen Europagedanken. Der eiserne Vorhang beherrschte unser Leben, vieles war uns unzugänglich. Viele lebten nicht schlecht, andere litten, alles aber nicht vergleichbar mit den Schrecken der Nazizeit. Und doch können viele bis heute nicht artikulieren, was diese Zeit und auch die Zeit kurz danach mit uns Menschen gemacht hat. Wie, denkst du, können wir dieses Schweigen und manche noch immer vorhandenen Vorurteile auf beiden deutschen Seiten aufbrechen?
Michael Stacheder: Wenn man bedenkt, dass innerhalb der BRD weit mehr als 30 Jahre vergehen mussten, bis die ersten Zeitzeugen ihre Sprache wieder gefunden und somit ihr Trauma artikulieren konnten, warum glauben wir, dass bei einer Diktatur wie der DDR schneller gehen könnte? Das ist doch vermessen und entspricht nicht der Realität. Natürlich, wir bekommen gerade den Spiegel vorgehalten, was in der Wendezeit versäumt und verdrängt wurde. Aber noch ist es nicht zu spät. Lasst uns weiter aufeinander zugehen. In den letzten 30 Jahren ist viel passiert, aber der Weg ist noch nicht zu Ende.
Susanne Schneider: Könnte uns ein Blick in die Kultur der Welt von Gestern helfen?
Michael Stacheder: Ja, warum nicht. Aber auch den Mut und ein Selbstbewusstsein entwickeln, eigene Visionen und Utopien zu gestalten, zu denken. Wie möchten wir unser Leben führen? Wie möchten wir leben? Mehr Mut zu gelebten Utopien. Wir müssen diesem Hass, der Hetze und dem Rassismus der uns mittlerweile täglich entgegenschlägt, uns provoziert und in unseren demokratischen Grundfesten erschüttert, etwas entgegensetzen.
Susanne Schneider: Was bedeutet für dich persönlich der Reichtum dieser Welt von Gestern? Was ist dir selbst heute davon wichtig und bewahrenswert oder wieder erstrebenswert und warum? Prägt diese Welt deinen eigenen Heimatbegriff?
Michael Stacheder: Je mehr ich mich mit der Zeit des Stefan Zweig und seiner Welt von Gestern beschäftige, um so mehr verspüre ich das Verlangen, meinen Horizont immer weiter zu erweitern. Das Wort Heimat ist für mich in seiner Bedeutung und Begrifflichkeit relativ klein, ja es beginnt mich einzuengen. Wenn wir das Glück erkennen, in welcher Zeit wir eigentlich leben dürfen, was für Möglichkeiten uns ein geeintes und friedliches Europa bereit hält, warum dieser Hass, dieses nationalradikale Denken und Handeln? Ich will und kann das nicht akzeptieren.
Vielen Dank, Michael, dass du dir Zeit genommen hast für dieses Interview.
Wir verweisen gern für noch mehr Informationen auf Michael Stacheders Theaterwelten und zu seinen eigenen Artikeln über die Stimmen aus der Welt von Gestern und Spätes Tagebuch.
Im Bild unter diesem Absatz noch einige Informationen von uns zu den beiden Lesungen, die in der Zeit vom 15.-22.3.2020 buchbar sind. Wir kommen in dieser Zeit und (sofern möglich) gern darüber hinaus in Schulen, Bibliotheken und Kulturhäuser. Bitte Nachricht an uns, nutzen Sie gern unser Kontaktformular.

Fotonachweis: Paria Partovi (Beitragsbild)